Auf 4.000 Meter: Die „Hochschule“ in Lingshed (Ladakh)
Gepostet am 6. Mrz. 2015 in Architektur, Asien, Projekte, Schule | Keine KommentareEs ist zehn Uhr, der Schultag beginnt. 120 Kinder mit blitzblauen Kappen und Blusen sowie dunklen Hosen singen die indische Hymne, das gehört zum Morgenritual. Hinterher beten sie, und Lehrerin Thinlas Lhamo hält einen kleinen Morning Talk. Auch Morgensport steht auf dem Stundenplan, erst danach geht es in die Klassen. Um ein Uhr werden die Kinder Mittag essen, zumeist Tsampa: geröstete Gerste, Erbsen, Fladenbrot. Am Nachmittag geht es weiter mit Singen und Spielen: Die Schule in Lingshed ist eine echte Ganztagsschule.
Wenn die Kinder in ihre Schuluniformen schlüpfen, fängt für sie eine besondere Zeit an – zu Hause ist vor allem Arbeiten angesagt: Schafe hüten, Holz tragen, den Dung von Yaks und Ziegen sammeln, der kostbares Brennmaterial für die bitterkalten Wintermonate ist. Die Eltern vieler Kinder können selbst nicht lesen und schreiben. Genau so war es auch bei Thinlas Lhamo und Kunsang Choton, den einstigen Hirtenmädchen, die heute begeisterte Lehrerinnen sind. Kunsang (siehe Foto links: als Schülerin und Lehrerin) arbeitete nach Abschluss ihres Studiums zwei Jahre als Erzieherin in der ladakhischen Hauptstadt Leh und dann bildete sie sich in Südindien weiter. Aber sie beschloss zurückzukehren: „Mein Platz ist in Lingshed. Als ich 2010 dort eine Anstellung bekam, hatte ich mein Ziel erreicht. Nun unterrichte ich seit vier Jahren in meinem Heimatdorf, in dem ich selbst Schülerin war.“
Der Verein FRIENDS OF LINGSHED (FOL) leistet in Ladakh nachhaltige Hilfe. Seit 1994 engagiert sich ein österreichisches Team ehrenamtlich in dieser Region. Unter Führung der Obfrauen Greta Kostka und Petra Schinagl und Sonam Dorje, dem Koordinator vor Ort, wurden die Aktivitäten immer umfangreicher. Mit Spendengeldern finanziert der Verein verschiedenste (Bildungs)-Projekte, Stipendien und Patenschaften. Im Jänner 2015 feierte man in Graz das 20-jährige Bestehen mit einem Fest.
Ladakh, ein knapp größeres Gebiet als Österreich, im indischen Bundesstaat Jammu und Kashmir wird von den höchsten Gebirgen der Welt, dem Karakorum im Norden und dem Himalaya im Süden, eingefasst. Nur 270.000 Menschen mit großteils tibetischer Herkunft besiedeln das karge Bergland. Das buddhistisch geprägte Erbe Tibets kann dank einer von Indien gewährten Autonomie weiter gepflegt werden. Tradition und Moderne lösen einander nicht ab, sondern entwickeln sich in Ladakh parallel weiter. Der handwerkliche Bau eines neuen „Tschörten“ (Reliquienschrein) und die Montage von Sonnenkollektoren für die Schule sind z.B. für die Dorfgemeinschaft von Lingshed gleich wichtig. Und die Schulbildung bzw. ein Studium sind der Schlüssel zu diesem spannenden Weg in die Zukunft.
Lernen mit der Kraft der Sonne
Als der Architekturstudent Christian Hlade im Jahr 1991 erstmals in das damals extrem abgelegene Lingshed (ca. 1.200 Ew.) kam, war es Liebe auf den ersten Blick. Er beschloss, die Planung einer Solarschule für das auf 4.000 Metern gelegene Bergdorf zu seiner Diplomarbeit zu machen. Es gab damals nur ein zusammengebrochenes Schulgebäude, in dem Ziegen herumkletterten. Ab 1993 organisierte er einen Schulbetrieb in einem verlassenen Wohnhaus, ab 1997 zusammen mit dem von ihm gegründeten Verein „Friends of Lingshed“. Etliche Jahre und überwundene Widerstände später, 1999/2000, konnte die Schule mit Hilfe von Spendengeldern gebaut werden. Hlade: „Ich verbrachte dann viele Monate am Dach der Welt, das war auch der Auslöser, um meine Anstellung als Architekt aufzugeben, und zugleich der Startschuss von Weltweitwandern*, seinem Reiseunternehmen.“ Wenig später übergab er auch die Vereinsarbeit an aktive FOL-Mitglieder.
Im Oktober 2013, erstmals seit der Fertigstellung der Schule, kehrte er nach Lingshed zurück – und staunte, was sich seither alles getan hat: Erforderte die Reise von Leh nach Lingshed früher fünf Tage Fußmarsch, so ist seit einigen Jahren eine Straße in Bau und jetzt wandert man nach der Fahrt nur noch vier Stunden. Bei seiner Ankunft wird er von SchülerInnen, LehrerInnen und Dorfleuten herzlich empfangen und in „seiner“ Solarschule untergebracht, wo alles frisch gestrichen und wohnlich ist – und sehr warm: Die Beheizung durch die Sonne funktioniert also bestens. Die Solarschule wurde mittlerweile von der indischen Regierung auf einen Komplex inklusive Bibliothek, Lehrerwohnungen und Schülerinternat erweitert. Seit 2007 gibt es acht Schulstufen. Geplant ist, dass eine 9. und 10. Klasse eingeführt, wird damit die gesamte Schulausbildung in Lingshed stattfinden kann. Im Sinne der Eigenverantwortlichkeit ist die Schule 2008 an die Bevölkerung von Lingshed übergeben worden und wird von ihr gewartet und erhalten. Statt seinerzeit zwanzig lernen hier nun 120 Kinder, und statt früher vier Schulstufen können sie heute acht durchlaufen. Stolz präsentieren die Lehrer eine Auszeichnung, die an der Wand hängt: Beste Schule des Bezirks!
Breit gefächertes Bildungsprogramm
FRIENDS OF LINGSHED finanziert rund 100 Patenkinder und zwischen 15 und 20 LehrerInnen in verschiedenen Dörfern der Region für den Winterunterricht; eine Form des Nachhilfeunterrichts, der in den Ferienmonaten Dezember bis März in Lingshed und den umliegenden Dörfern stattfindet. Im Sommer wird das Lehrpersonal von der ladakhischen Regierung bezahlt. Einige der von FRIENDS OF LINGSHED betreuten SchülerInnen besuchten das College in Leh und sind als LehrerInnen nach Lingshed zurückgekehrt, um hier zu unterrichten. Aber auch wenn die Ausbildung von einigen nicht ganz abgeschlossen werden konnte (z.B. wegen Heirat oder Unentbehrlichkeit auf dem elterlichen Hof), haben sie die grundlegenden Kulturtechniken Lesen-Schreiben-Rechnen erlernt. Diesen geistigen Besitz kann ihnen niemand mehr wegnehmen. Grundsätzlich ist es ein Anliegen, dass die Jugendlichen nach einem Abschluss in ihre Dörfer zurückkehren und so aktiv in ihren Heimatgemeinden mitarbeiten (z.B. als Lehrer/in, Krankenschwester).
Der einheimische Koordinator Sonam Dorje und die Schulleitung des Nachbarortes Khaltse bemühen sich, die Bildungsangebote laufend zu verbessern. Seit 2008 unterstützen die FRIENDS OF LINGSHED auch ein Umweltbildungsprogramm der Snow Leopard Conservancy (www.snowleopardconservancy.org). Ziel ist es, das sensible Ökosystem zu erhalten und damit den Lebensraum des vom Aussterben bedrohten Schneeleoparden zu sichern bzw. ein Miteinander von Mensch und Tier zu ermöglichen.
So können Sie das Projekt unterstützen:
IBAN: AT02 2081 5022 0040 7076, Website: www.lingshed.org
* Weltweitwandern, gegründet 2000, ist Österreichs führender Reiseveranstalter für weltweite Wanderreisen. Die wichtigsten Regionen von WWW: Marokko, Ladakh & Indien, Nepal & Tibet, Madeira, Spanien, Georgien & Armenien, Rumänien, Kuba, Peru, Tansania, Mongolei.
Bildlegende (von oben nach unten): 1. Die Solarschule von Lingshed, 2. Die Lehrerin Kunsang Choton (kleines Foto: als Schülerin), 3. Kinder in der Solarschule, 4. Christian Hlade mit dem Lama Sandrup, der ihn beim Bau der Solarschule sehr unterstützt hat, 5. Bei der Feldarbeit im Dorf Lingshed, 6. Fest in Lingshed, Copyright Artikel und Fotos: Friends of Lingshed und Christrian Hlade